ESSERE ESTRANEO fremdsein

Lukas Bärfuss, Melinda Nadji Abonji, Concetto Vecchio

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Von der Ankunft im Fremdsein

Melinda Nadj Abonji, Concetto Vecchio und Lukas Bärfuss sprechen über das Fremdsein. Sie sind Schriftsteller*innen, jede*r hat über dieses Thema und dessen Verwandten, Herkunft, Ankunft, Zugehörigkeit, Sprache, Rassismus und viele mehr schon in Büchern und Texten geschrieben. Ich schreibe, worüber sie während des Podiumsgesprächs gesprochen haben. Der Text besteht fast ausschliesslich aus Zitaten und leicht umfor­mulierten gesprochenen Sätzen der drei Diskutierenden. Sie werden den drei Gesprächs­teilnehmer*innen thematisch und abschnittsweise zugeordnet. Wenn ich etwas hinzufüge, soll dies dazu dienen, dem Besprochenen besser folgen zu können. Um den Text leserlicher zu gestalten, schreibe ich ihn erzählend und nicht als Dialog bzw. Trialog. Als Dichterin und Person of Colour geselle ich mich mit diesem Text zu Melinda Nadj Abonji, Concetto Vecchio und Lukas Bärfuss an den Tisch und schreibe einige wenige Male wir. In dieses wir schliesse ich alle ein, die sich fremd fühlen, oft oder manchmal, intensiv oder ein bisschen.

Die stumme Tanne

Melinda Nadj Abonji spielte bei der Theateraufführung im Kindergarten den Wald. Aufgeführt wurde Schneewittchen. Melinda Nadj Abonji konnte noch kein Deutsch. Also wurde sie als Tannenbaum verkleidet und stand dann da und spielte den Wald. Sie war stumm. In diesem stummen Moment fühlte sie sich zum ersten Mal ausgeschlossen. Aber nicht nur. Dieser Moment war auch der Beginn der Sprache. Da merkte sie, dass sie dazugehören, dass sie all diese verschiedenen Sprachen sprechen wollte. Dass jede Sprache in der Stummheit beginnt, im Nichtverstehen, im Ungesicherten, in der Stille. Dieses Tannengefühl wird sie immer begleiten.

Concetto Vecchios Muttersprachen sind Schweizerdeutsch und Sizilianisch. Wenn er schreibt, ist immer eine Unsicherheit da. Seine Freund*innen glauben ihm das nicht, schliesslich ist er Journalist und arbeitet mit der Sprache. Trotzdem, ganz gleich, ob er Deutsch oder Italienisch schreibt, ist diese Unsicherheit da. Nur wenn er Schweizerdeutsch spricht, ist sie weg. Die Unsicherheit beim Schreiben ist gut, sie ist ihm willkommen. Sie macht ihn demütig gegenüber dem Schreiben.

Melinda Nadj Abonji, Concetto Vecchio und Lukas Bärfuss beginnen bei ihren eigenen Erfahrungen. Sie beginnen bei der Sprache, bei ihren Sprachen, beim Wort fremd. Melinda Nadj Abonji hat sich mit dem Thema beschäftigt und auch mit dem Wort. Fremd ist eine Adjektivbildung zum germanischen fram, was fern von oder weg von bedeutet. Dieses fram ist heute noch präsent im englischen from. Und das wiederum beinhaltet sowohl etwas Statisches, fern sein von einem Ort, als auch eine Bewegung, weggehen von einem Ort. Vielleicht ist in dieser Bewegung auch ein Hingehen zu einem Ort. So sind verschiedene Dinge, vielleicht sogar widersprüchliche Dinge im Wort fremd enthalten. Genau so wie in dessen Gegenteil, der Zugehörigkeit. Zur Masse dazuzugehören, dazu­gehören wollen ist sowohl etwas Wohliges als auch eine Last. Es bedeutet permanente Anstrengung. Als Schriftstellerin möchte Melinda Nadj Abonji sprachlich irgendwohin kommen, immer weiterkommen.

Der Apfel auf Ungarisch, alma, ist nicht ein Apfel. Der Tisch auf Ungarisch, asztal, ist kein Tisch. Es sind unterschiedliche Äpfel, unterschiedliche Tische. Als Melinda Nadj Abonji eine neue Sprache lernt, lernt sie auch, dass es in jeder Sprache unzählige Sprachen gibt. Die Sprache sagt, was in der Lebensrealität vorhanden ist. In einer Sprache ist jeweils nur ein Tisch gemeint. Unter Umständen verändert es auch die Bedeutung des ersten Apfels, alma, des ersten Tischs, asztal. Die Sprachwelten werden durchlässig, unsicher.

Über Lukas Bärfuss’ Kindheit gibt es nicht viel zu erzählen. Das, was es gäbe, wird verschwiegen. Zum Beispiel der Grossvater, der ein Kind von Roma war, die Familien­mitglieder seines Stiefvaters, die alle verdingt wurden, die falschen Namen, die sie trugen. Die Sprache ist für ihn immer auch eine Möglichkeit, seine eigene Geschichte zu erzählen, sich selbst eine Geschichte zu geben. Da, wo es sonst stumm ist, wo es keine Dokumente gibt, gibt es die Dichtung und die Literatur.

Alles Lüge

Melinda Nadj Abonji ist gegen Identität. Eine Identität ist nicht mehr als eine Erzählung, welche die Gesellschaft verlangt, oder sogar über uns erzählt. So stimmt Melinda Nadj Abonji auch nicht mit Margaret Thatcher und ihrer Aussage „There is no such thing as society” überein, sei mit society die Gesellschaft gemeint, oder wie bei Thatcher auch die Regierung. Melinda Nadj Abonji sagt: „There is such thing as society”. Diese Gesellschaft zwingt jede*n Einzelne*n, sich für eine Sprache zu entscheiden, für eine Heimat, ein Land. Das, was nach all den Entscheidungen herauskommt, eine Identität, ist demnach immer eine Fremdzuschreibung. Sie ist eine Lüge. Es sind Erzählungen der Heimat und des Fremdseins. Die Erzählungen geschehen innerhalb eines Systems von wirtschaftlichen Realitäten, die nicht zulassen, dass sich ausländische billige Arbeitskräfte angenommen fühlen. Sie geschehen innerhalb von Gesetzen, die diese ungerechte Realität legalisieren. So ist vielmehr die Klasse der einzelnen Person wichtig. Dieser Aspekt der Identität ist ausschlaggebend für die Lebenswelt der Menschen, nicht die Herkunft, die Sprache, die Heimat. An ihr macht sich die Realität der Menschen fest.

Von einer solchen Realität handelt Concetto Vecchios Buch Jagt sie weg (Orell Füssli Verlag, 2020). Die Schwarzenbach-Initiative von 1968 wollte die Überfremdung in der Schweiz verhindern. 300.000 vorwiegend italienische Gastarbeiter*innen sollten ausgewiesen werden. Die Initiative löste eine Hetzkampagne in der Schweiz aus, sie entzweite die Gesellschaft, bevor sie 1970 hauchdünn abgelehnt wurde. Die damals herrschenden Schweizer Gesetze verboten den Familiennachzug. Die Kinder der Gastarbeiter*innen kamen illegal in die Schweiz oder wurden an der Grenze zurückgelassen. Viele wurden vergessen.

Damals immigrierten italienische Gastarbeiter*innen, um in der Schweiz Geld zu verdienen. Sie kamen mit dem Zug. Auch Concetto Vecchios Eltern kamen damals in die Schweiz. Heute kommen Menschen über das Mittelmeer nach Europa. Auch sie wollen einer nicht ertragbaren Situation in ihrem Herkunftsland entfliehen, Armut, Krieg und Unterdrückung hinter sich lassen. Sie kommen mit dem Boot. Sie riskieren ihr Leben auf dieser Reise. Um eine solche Reise anzutreten, bedarf es einer riesigen Motivation. Diese jungen motivierten Immigrant*innen lösen eine diffuse Angst im Ankunftsland aus. Die Angst, die eigene Kultur und ja, Identität im Ankunftsland könnte bedroht werden oder gar verschwinden, die Angst vor der kulturellen Konkurrenz. Es ist diese Angst, die James Schwarzenbach 1968 gespürt und genutzt hat. Es ist diese Angst, wegen der Concetto Vecchios Eltern bei ihrer Ankunft in der Schweiz auf Fremdenhass stiessen, ausgegrenzt wurden. Sie ist aber auch ein Tabu, diese Angst. Niemand will sich daran erinnern, an den Hass, an die vergessenen Kinder. Concetto Vecchios Eltern erzählen die italienische Immigrationsgeschichte stattdessen als Erfolgsgeschichte.

Etwa fünfzig Jahre später ist Matteo Salvini an der Macht. 40 Prozent der italienischen Bevölkerung heissen das gut. Auch Salvini betreibt eine populistische, rassistische Identitäts­politik. Er vermittelt den Eindruck, alles sei einfach: Einerseits gibt es die Immi­grant*innen, die die italienische Kultur, die italienische Identität bedrohen und andererseits die Italiener*innen, mit einer italienischen Identität und Kultur. Wie politisch rechte Populist*innen vor ihm behauptet auch er, die Gegenwart beginne jetzt, die Bedrohung sei neu. Die grosse Emigrationsgeschichte seines Landes ist vergessen oder es wird daraus zitiert, wie aus einem alten Buch, dabei ist sie noch nicht so lange her. Die Geschichts­losigkeit zusammen mit den drei wichtigen Ingredienzien der nationalistischen Gesellschaft – Familie, Flagge und Religion – werden wieder gepredigt. Immigrierte Italiener*inner der Generation von Concetto Vecchios Eltern wollen sich nicht mit den heutigen Immigrant*innen vergleichen. Sie seien anders gewesen, sie seien anders behandelt worden. Auch für die Populist*innen um Matteo Salvini ist Italien ein Land ohne Vergangenheit. Für Concetto Vecchio ist Italien vor allem ein Land mit einer fragwürdigen, wenn überhaupt vorhandenen Erinnerungskultur.

Lukas Bärfuss leitet ein Paradox aus Concetto Vecchios Gedanken ab. Ein Paradox, vor welches die Identitätspolitik die Immigrant*innen jeglicher Generation stellt: Sie müssen etwas akzeptieren, was sie überwinden wollen. Nämlich die Erzählung einer Heimat, die immer mit dem Herkunftsland verbunden ist, bis hin zur zweiten und dritten Generation. Eine solche Identitätspolitik ist somit eine Quelle für Rassismus, eine Quelle für die Angst vor allem Fremden, welche die Gesellschaft spaltet. Identität und Zugehörigkeitsgefühl sind innerhalb des kapitalistischen neoliberalen Verwertungszusammenhangs schädlich. Die Immigrant*innen sollen zwar kommen und arbeiten, sie sollen sich aber nicht zuhause fühlen, sondern immer beweglich und flexibel bleiben, immer weitergehen. Populistische Aussagen verbinden die Angst vor dem Fremden mit den Sündenböcken, die diese Angst aufnehmen können, den Immigrant*innen.

Schmetterlinge auf der Wiese

Die Identität ist eine Erzählung, eine Zuschreibung, festgemacht an festgelegten Faktoren wie Ländern, Sprachen, Namen, der Geschichte. Die drei Diskutierenden, Melinda Nadj Abonji, Concetto Vecchio und Lukas Bärfuss weisen, jede*r auf eigene Weise, diese Zuschreibung zurück. Sie tun dies als Künstler*innen, als Schreibende. Lukas Bärfuss fragt: Ist das Bewusstsein über das Fremde nicht die Voraussetzung, um sich verwandeln zu können? Ist dieses Prinzip der Verwandlung nicht der Grund für eine Kunst? Für ihn ist Denken möglich wegen des Spaltes, den wir zwischen uns und den Anderen empfinden. Die Schmetterlinge, welche die drei früher am Nachmittag auf der Wiese gesehen haben, sind da zuhause, auf dieser Wiese. Sie sind es auf eine Weise, die uns niemals gegeben ist. Mensch sein bedeutet fremd sein. Künstlerisch zu arbeiten bedeutet doch genau das.

Die Geschichten müssen von jenen erzählt werden, die sie erleben. Von uns selbst. Wir müssen uns dazu ermächtigen, sie zu erzählen und das nicht der Politik, nicht den Populist*innen überlassen. So antwortet Melinda Nadj Abonji. Und sie antwortet mit einem zweiten Punkt, der Erfindungskunst. Fremd bedeutet weg von, aber auch hin zu einem Ort. Diese Verwandlung, die als Möglichkeit in allem liegt, ist das Schönste an der künstlerischen Arbeit. Es ist möglich, Bäume sprechen zu lassen, Tannen, Geschichten für und über die Geschöpfe und Dinge dieser Welt zu erzählen. Für Klänge, für die Farben auf Miriam Cahns Bildern. Die Erfindungskunst ist die Möglichkeit, der Welt zuzuhören und für sie eine Sprache zu suchen.

So ist es vielleicht auch möglich, das Fremdsein affirmativ zu begreifen, sich vom Fremdsein zu emanzipieren. Für Concetto Vecchio ist das möglich. Er hat dafür Zeit gebraucht, fünfzig Jahre Zeit. Seine Freund*innen, die immer in Italien lebten, haben einen Ort, woher sie kommen, eine gemeinsame Tradition, gemeinsame Erinnerungen. Lange wollte Concetto Vecchio das auch, wollte so sein wie sie. Sein Verhältnis zur Schweiz ist genauso kompliziert. Er kann es seinem Sohn nicht erklären. Was er erklärt ist, dass er zwar Aarau-Fan ist, aber bei Länderspielen oder der Fussball-WM nicht will, dass die Schweiz gewinnt. Erst viel später begreift er die Tatsache, dass er nirgendwo zuhause ist, zumindest so zuhause, wie seine Freund*innen in Italien oder die Schmetterlinge auf der Wiese als Teil von ihm. Als Stärke, als Flexibilität und als Resilienz Schwierigkeiten gegenüber. Nur aus seiner Distanz zu Italien und zur Schweiz, aus seinem Fremdsein heraus war es ihm möglich, über die Stimmung der Zeit um die Schwarzenbach-Initiative zu schreiben, über die Immigrations- und Emigrations­geschichte der Italiener*innen in jener Zeit.

Für einen Teil der Gesellschaft ist dieses Fremdsein keine Möglichkeit. Es gibt Menschen, die auf eine Heimat angewiesen sind, auf eine Arbeit und ein Zuhause an einem Ort für sich und ihre Familien. Ist das beständige Fremdsein, das willentliche Nicht-Dazugehören mit dem Anspruch, ständig flexibel zu sein und sich anpassen zu können, auch ein Privileg der arrivierten Künstler*innenklasse? Das fragt Lukas Bärfuss, um das Thema von einer anderen Seite anzuschauen, um den dialektischen Gegenpunkt einzubringen.

Es ist kein Privileg, stellt Melinda Nadj Abonji fest. Die Erzählung von Zugehörigkeit, die automatisch auch eine Überlegenheit und Hass gegenüber Anderen mit einschliesst,

ist schlimm. Niemandem wird abgesprochen, sich irgendwo wohl zu fühlen. Aber Zuge­hörigkeit ist noch lange kein Grund, jemand anderen auszuschliessen, andere Menschen zu hassen, sich Anderen überlegen zu fühlen. Das hat noch nichts mit Privilegien zu tun. Diese Art von Fremdsein, welches Ausgeschlossensein bedeutet, ist kein Privileg. Es kann nicht nicht gewählt werden. Auf diese Art und Weise fremd fühlen wir uns nicht freiwillig.

Ich füge hinzu, dass Fremdsein in der anderen Bedeutung, derjenigen, die sich nicht nur weg von, aber auch hin zu einem Ort bewegt, vielleicht ein neutraler Zustand werden kann. Das Neusein vor der Vertrautheit eines neuen Ortes. Ein Zustand, in dem Kunst entsteht. Ein Zustand, den wir mit noch neuen, noch fremden, noch eine andere Heimat gewohnten Sinnen wahrnehmen. Ein Zustand, den wir mit diesen Sinnen beschreiben, malen oder auf andere Weise künstlerisch manifestieren können. Wir möchten uns nicht ausgeschlossen fühlen, aber wahrscheinlich auch nicht immer wie Schmetterlinge auf der Wiese.

Gianna Olinda Cadonau

Weil ich erkenne, wie endgültig und unüberbrückbar fremd ich dir bin, begreife ich erst, wie erstaunlich und zufällig meine Existenz ist, unergründlich, unbedeutend, aber nicht gleichgültig. / Lukas Bärfuss